Frottagen, erste Serie2003
Tun, was zu tun ist.
Ciguri, Anna und Antonin „Ich anerkenne, was mir paßt und nicht, was auf der Linie liegt.“
Antonin Artaud Mexiko. Ende August des Jahres 1936 ermöglichte der mexikanische Erziehungsminister Antoni ... mehr
Frottagen, erste Serie2003
Tun, was zu tun ist.
Ciguri, Anna und Antonin
„Ich anerkenne, was mir paßt und nicht, was auf der Linie liegt.“
Antonin Artaud
Mexiko. Ende August des Jahres 1936 ermöglichte der mexikanische Erziehungsminister Antonin Artaud eine Exkursion in die Sierra Madre Occidental, „wo Mexikos rote Erde noch ihre echte Sprache spricht“. Artaud begibt sich in die Indianergebiete der Tarahumanaras, ein Stamm, der auf der Stufe der Steinzeit existiert. Die wie Tote leben, schreibt Artaud, aber wegen ihrer Zähigkeit gerühmt werden, worauf sich auch ihr Name bezieht, der soviel wie „Läufer“ bedeutet. Sein Ziel erreicht er nur über einen langen Ritt ins Hochgebirge. Eine heftige Tortur, die er ohne sein Heroin mit Entzugserscheinungen, als seine eigene Kreuzigung schildert, wie ein Automat aufs Pferd geschweisst, und nur von seinem Führer und Dolmetscher begleitet, qualvoll erduldet und elf Jahre später als „Bezauberungen“ beschreiben wird. Die Atmosphäre ist albtraumhaft, die Landschaft anamorphotisch, alles ist Zeichen oder trägt Zeichen, alles bedeutet.
Nacht. Totenstille, ein kleines Küstenstädtchen in Nordamerika, unweit Mexiko-Stadt, wo gerade der „Platz der drei Kulturen“ eingeweiht wird, nur unheilvolles, zaghaftes Krähen schwarzer Vögel kündet wie das Auge des Orkans den kommenden Zerstörungswillen dieser Kreaturen an — und doch geschieht in Wirklichkeit gar nichts, geht es im realen Raum nur um das Auge des kontemplativen Betrachters im Kinosessel. 1963, Hitchcock dreht „The Birds“ und sein Landsmann Edwin H. Land konstruiert die Sofortbildkamera (Polaroid- oder Landkamera) für Farbfotos. In Berlin befand sich trotz Kennedy Besuch (und seines drei Monate später einsetzenden Todes) die „Große Nacht im Eimer“, was Henry de Montherlant parallel auch erkannte: „Le chaos e la nuit“ — und in Belp bei Bern wird Anna geboren — Antonin war da auch schon 15 Jahre im Reich der Nacht zu Hause.
Ciguri. Sein Leben dort war voller Magie. Die Tarahumaras praktizieren den alten Peyotl-Ritus. Das aus dem Peyotl-Kaktus (lophophora williamsi) gewonnene Meskalin ist ein Halluzinogen, welches die Sensitivität erhöht, vor allem die visuelle Wahrnehmung, Farbräusche sind häufig, aber auch die Identifizierung mit der Pflanze selbst, ein Pflanzenbewusstsein. Zuerst wurde es ihm verweigert, der lange, quälende Entzug, doch dann trat er in den Ritus ein, den Schöpfungsritus Ciguris: Denn Ciguri war der Mensch, der Mensch gleichsam aus sich selbst, er selbst entwarf sich im Raum, als Gott ihn ermordete.
Dunkelrot. Wenn ein (sehr) junger Mensch die Welt begreifen lernt, nimmt er alles, was er zu fassen bekommt, in den Mund. Man könnte also auch von die Welt belutschen sprechen. Wesentlich hierbei ist die haptisch-geschmacklichere Differenzierung und somit olfaktorische Erkenntnis des Organs Mund gegenüber der taktilen Finger-Hand-Beziehung. Jedoch wird hier auch erspürt, ertastet und zugleich ergriffen, gehalten, geführt. Etwas später im sozialen Erkenntnisprozess werden Begriffe, Lautzeichen, zu den entsprechenden Objekten gelernt, die auf einer Konvention beruhen. Richtig spannend wird es aber, wenn bestimmte synästhetische Phänomene erkennbar werden, z.B. dass Farben bestimmte Klänge oder Gerüche erzeugen, dass Namen Farben hervorrufen und Töne sichtbar werden. Dies ist gar nicht so selten und wird mitunter (und fälschlicherweise) als Wahrnehmungsstörung diagnostiziert, lässt sich jedoch mit Hilfe halluzinogener Drogen wie LSD oder Meskalin auch künstlich erzeugen.
Namur. „Meskalin-Zeichnungen“ nannte Henri Michaux seine seit Mitte der 50er Jahre entstehenden, sich wie von selbst unter dem Einfluß des Halluzinogens schreibenden Arbeiten auf Papier. Diese mit Tusche oder Tinte aufs Papier gebrachten Zersetzungsprozesse visueller Formen sind von einer rhythmischen Struktur und beinahe graphischen Präzision, dass das formlos-abstrakte „Geschreibe“ der Welt eine kritzelige Entsprechung erfährt, in der Farben und Töne gleichsam eingeschrieben sind. Dennoch ist nichts greifbar, nichts wirklich sicher und das formlos Geformte gibt nur syntaktisch Hinweise auf eine jenseits des virtuellen Bewusstseins liegende semantische Schicht. Wo vormals eine Oberfläche, der Erdboden war, schreibt Michaux über seine Meskalinerfahrung, haben Sie Hunderte, Tausende von Punkten vor sich, die Sie alle einzeln zu empfinden imstande sind, jeden in seiner Individualität. Und in anderem Zusammenhang (über den Linien-Abenteurer Paul Klee): Ich landete beim rein Musikalischen, beim echten Stilleben.
Linien. Linien und Punkte halten uns im Raum. Fix- und Fluchtpunkte, Raster, Pixel, Koordinaten, Positionen, Bezüge. Dazwischen Linien, Geraden, Strecken, Vektoren, die Beziehungen der Punkte, Krümmungen, Winkelbeziehungen. Im Wechselspiel von flächigem, zwei-dimensionalem Punkt (präzise muss man vom ein-dimensionalem Punkt sprechen) und seinem Verhältnis zu anderen Punkten einerseits und dem zwei-dimensionalem Linienverhältnis, welches ebenso schnell die Dreidimensionalität berührt, andererseits, steht die Kunst Anna Amadios. Es ist eigentlich immer Landschaft im planungstechnischen Sinne, Land schaffen, wofür und wozu, also im funktionalen Sinne, zwar eher nicht, und doch wird Land als Beziehung, als beschreibbare Grösse ernst und als Problem des (flächigen) Raumes zwischen Punkt und Linie wahr genommen.
Opiate. Dies ist ungewöhnlich und bemerkenswert, strahlen ihre Papierarbeiten doch genau wie die großen, transparenten Luftkissen bei aller planungskonstruktiver Leichtigkeit eine Undurchdringlichkeit, ja Unheimlichkeit aus. Dies mag zum einen an der Zittrigkeit, der Nervosität oder graphischen Unruhe der Punkte und Linien liegen, die bei genauem Betrachten eine Art Interferenz von Parallelitäten erzeugen. Eine abstrakte Produktivität — wie der Wille zum Leben - erhält eine konkrete Form. Aber man kann bei den Zeichnungen eigentlich nie sicher den Ursprung oder die Abfolge der Lagen bestimmen, sondern eher nur Konzentrationen und Verdichtungen. Kraftzentren, in denen die Varietät bei gleichzeitiger Redundanz eine enorme, bisweilen halluzinogene Suggestion auf den Betrachter übt. Hier und da ergänzen sich dann die Kurvaturen zu einem allein in der Anschauung des Betrachters gewonnenen Abbildes von Baum oder Wald, eines Tieres oder einer Figur. Hierbei ist die formale Nähe zu den Meskalinzeichnungen Michauxs, den Darstellungen einer gegenstandslosen Welt voller Quasi-Objekte frappierend, und nicht weniger überzeugend auf sprachlicher Analogie den Urwald-Visionen Artauds, in dem die Toten (die Tarahumanaras) inmitten eines schaffenden Landes voll roter Erde existieren, schattenhaft, nur als Zeichen, noyée d´ombre.
Stilleben. Stehen bei den Zeichnungen graphische Schwingungsmomente wie parallel (als Bündel oder auf Linie) gezogene Spuren organischer, biologischer oder physikalischer Strukturen und Texturen auf dem Papier, greift Amadio in den Luftobjekten auf ihre auf er Fläche gewonnen Erfahrungen zurück. Flimmernde Graphismen, schwirrende Schraffuren und nervöse Kraftfelder kommen im Raum aus Licht und Luft zusammen, verbinden sich in den transparenten Polyäthylenkissen und PVC-Folien zu einem Kokon, dessen Ursprung und Anwesenheit selbstverständlich angenommen wird. Sie sind einfach da und haben ihre Berechtigung. Sie sind konstruktiv und geben Funktionalität vor und zugleich ist ihre Funktion und Herkunft nicht einfach zu erkennen. Zugleich sind sie immer monumental, überfordern unsere Auffassung im Raum, des Raumes auf den sie orts-spezifisch entworfen wurden. „Anatomie eines emotionalen Überfalls“ nannte Anna Amadio einmal ein grosses Luftobjekt, welches gespannt zwischen Luft und Licht im Raum die imaginäre Tektonik des ephemeren Seins formuliert. Ein geistiges Stilleben. Exakt das ist es, was uns mit ihnen verbindet. Eine Anwesenheit im Raum, die uns bewusst, funktional und somit stimmig erscheint, vertraut und doch flüchtig, unbekannt, voller Sehnsucht, das Begehren gegen die Zeit. Immer auch ein Geheimnis. Ohne Worte. Geistiges Stilleben.
Schrödingers Katze. In den neuesten Arbeiten Anna Amadios ist das Urbild eine in die weiche Leimmasse gefurchte oder erhabene Kontur, die durch Durchreiben mit einer Gruppe von 6-9 Stiften auf dem Papier ein Abbild hinterlässt. Die Frottagetechnik des Surrealismus entstammt den Experimenten des Unbewussten, einer ecriture automatique, bei der das auftauchende Bild eine regelgerechte, objektive Kopie der Vorlage ist. Dennoch bestimmt der Gestus immer auch das Erscheinen und die damit die Wirkung des Abbildes. Ist sie tot oder lebendig, war die erkenntnistheoretische Frage beim Experiment von Werner Schrödinger mit der armen Katze, die in einer geschlossenen Box tötlicher radioaktiver Strahlung ausgesetzt wird. Doch wir müssen hineinschauen in die Box, um dies zu wissen. Es ist wie bei Amadio. Wir müssen assozieren, befragen, ignorieren und bejahen, einer sensiblen Wachstafel gleich, wie schon Platon wusste, in das unser Gedächtnis die wahrgenommenen Dinge einschreibt und permanent überschreibt, jedoch ohne die älteren Einprägungen komplett zu löschen. Diese Frottage in unserem Kopf ist das „Theater der Grausamkeit“ (Artaud) im realen, symbolischen und halluzinogen-imaginären Anblick des Notwendigen. Hier sind nicht die medialen Bilder gemeint, sondern die Bilder, die uns im Inneren berühren, die als geistige Stilleben und schattenhafte Zeichen die Wachstafel der wahren Welt ins Vibrieren bringen. Dieser erhellende Wahnsinn eines Artaud, eines Michaux — manche suchen Ciguri stets vergebens — liegt als sein Double längst vor unseren Augen. Lassen wir die Katze leben oder sterben? In der Box ist Nacht, aber draussen lauern die Vögel. Und Fotos werden mittlerweile digital gemacht. Nun ja, der Katze kann´s egal sein.
Text Gregor Jansen
Fotografien Serge Hasenböhler
Frottage 50c |2003 |Frottage, Farbstift auf Papier |150 x 295 cm [H B T]
Frottage, Detail |2003 |Frottage, Farbstift auf Papier
Frottage 50b |2003 |Frottage, Farbstift auf Papier |150 x 295 cm [H B T]
Frottage 50d |2003 |Frottage, Farbstift auf Papier |150 x 295 cm [H B T]
Frottage, Detail |2003 |Frottage, Farbstift auf Papier
Frottage 50e |2003 |Frottage, Farbstift auf Papier |150 x 295 cm [H B T]
Frottage, Detail |2003 |Frottage, Farbstift auf Papier
Frottage 50a |2003 |Frottage, Farbstift auf Papier |150 x 295 cm [H B T]
Frottage, Detail |2003 |Frottage, Farbstift auf Papier