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Lips Inc.2006

Kunstmuseum Thun
5. Februar bis 19. März

Was ist New York? Die Stadt, von der es heisst, sie sei dicht, energiegeladen und hektisch, inspirierend für die Kunst und das Leben überhaupt. Wer noch nie dagewesen sei, müsse unbedingt noch hin.   Der Künstlerin Anna Amadio wurde der Aufenthalt in New York durch ein Stipe ... mehr

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Lips Inc.2006

Kunstmuseum Thun
5. Februar bis 19. März

Was ist New York? Die Stadt, von der es heisst, sie sei dicht, energiegeladen und hektisch, inspirierend für die Kunst und das Leben überhaupt. Wer noch nie dagewesen sei, müsse unbedingt noch hin.

 

Der Künstlerin Anna Amadio wurde der Aufenthalt in New York durch ein Stipendium ermöglicht. 2004/2005 für ein Jahr auf Einladung der eidgenössischen Kunstkommission. Wer Anna Amadio persönlich kennt, kann sich gut vorstellen, wie sich die Türen der U-Bahn hinter ihr schliessen, wie sie von langen Rolltreppen an die Erdoberfläche gestossen durchs Gewühl schreitet, von den Dächern der Wolkenkratzer die Übersicht geniesst oder in Grossraumbüros zwischen Coffee Cups und Baseballcaps die richtige Ansprechperson sucht. Diese Szenen haben wir alle x-fach in Kinofilmen gesehen. Aber wie hat sich Anna Amadio, die in keinem Film mitspielt, in New York tatsächlich gefühlt? Die Stadt, ein Mythos, der weltweit Träume und Sehnsüchte bündelt, vor allem aber Klischees. Wie lebt es sich in ihr und was tut eine Künstlerin mit diesen vorgefertigten und mit ihren eigenen Bildern?

 

Anna Amadio weiss, dass New York ein Sinnbild ist für ein Gefühl von Grossstadt, Hektik und Gegenwart. Sie kommt aber nicht in Versuchung, New York fotografisch oder in Objekten festzuhalten und lässt doch ihr Publikum unmittelbar an ihrer New-York-Erfahrung partizipieren. Denn immer sind Anna Amadios dreidimensionale Arbeiten direkte Reaktionen auf Räume. Angeregt von den farbigen Backsteinfasssaden in New York, die zahlreiche, dick aufgetragene Anstriche aufweisen, beginnt Anna Amadio mit knalligen PVC-Folien zu arbeiten. Sie realisiert für den Kunstverein Freiburg im Breisgau „Gizmo's Kiss“ (2005) und thematisiert damit auch den schwierigen Ausstellungsraum eben dieser Institution (aber nicht als räumliche Überforderung, sondern erlebbar als wuchtiges, anziehendes Volumen). Mit „Lips Inc“. findet Anna Amadio eine zweite entsprechende Umsetzung für New York, die in den Details noch narrativer Geschichten aus dieser Stadt transponiert.

 

„Lips Inc.“, das sind acht standardisierte Kojen aus einem Grossraumbüro, vollständig eingerichtet mit persönlichen Gegenständen der imaginären Arbeitenden. Dieses fiktive Grossraumbüro wird von farbigem PVC zugedeckt und vakuumiert. Die Luft unter dem PVC wird abgesaugt, so dass die Folie dicht um die Bürogegenstände liegend diese abbildet. Linien, Farben, Falten der Folie bedecken die vakuumierten Objekte und verfremden diese. Das Publikum versucht, die vielen Farben der Installation zu entziffern, assoziiert Chaos, Fröhlichkeit oder auch Favelas. Sogar monochrome Malerei wird in den vakuumierten Details erkannt. Durch die Farbigkeit (übrigens auch in der zeichnerischen Arbeit der Künstlerin) verklärt das Publikum Anna Amadios Werk meistens. Aber die Künstlerin entgegnet, dass sie einfach mit allen verfügbaren Farben arbeite und die Auswahl bei PVC-Folien glücklicherweise sehr gross sei. Farbe sei Rhythmus, Struktur und Energie. Vakuum, Folie und Farbe verwandeln die Objekte in mehr als ihre eindeutige Funktion als Bürogegenstände. Die Künstlerin erzählt in „Lips Inc.“ von Dingen, die uns im Alltag umgeben, aber sie tut es „farbig“, also schillernd, verführerisch und fügt den Objekten dadurch etwas bei, das über das Alltägliche hinausweist. Die Aktentasche oder der trostlose Blumenstrauss, das Jacket oder die Familienfotos werden nicht einfach verhüllt, sie bleiben weiterhin erkennbar, doch erhalten sie durch die Installation einen erweiterten Bedeutungsraum, ihre eigene Metapher.

 

Zwar ist die Installation unverkennbar aufwendig gemacht und das Vakuum verlangt in diesem Ausmass allerlei Technik, doch gleichzeitig erscheint die Arbeit „Lips Inc.“ sehr simpel. Darauf angesprochen nennt die Künstlerin Gaston Bachelards Buch Die Poetik des Raumes. Die Lektüre dieses Bandes vermittelte Anna Amadio nicht nur Verständnis, sondern auch Vokabular für ihr eigenes Raumempfinden und im weiteren für ihre Arbeit. In Die Poetik des Raumes gilt Bachelards Interesse einfachen poetischen Bildern, die in Gedichten oder Romanen beunruhigen, uns nicht mehr loslassen. Nach Bachelard ist das poetische Bild etwas absolut Ursprüngliches, die Einbildungskraft eines der tiefsten menschlichen Vermögen überhaupt. Um diese These zu stützen, untersucht Bachelard einfache, zumeist positiv besetzte Bilder des Raumes, die in der Literatur häufig wiederkehren. Zunächst Bilder intimer Räume: das Haus, der Schlupfwinkel, die Höhle; sodann die „Häuser der Dinge“: Schubladen, Truhen und Nester; schliesslich den Gegensatz von drinnen und draussen. In bildhafter und verständlicher Sprache erläutert Bachelard seine „Theorie des Widerhalls“ von Literatur in der Vorstellung der Leserin, des Lesers. Übertragen auf Anna Amadios Schaffen – und eine solche Übertragung ist hier kein Übergriff – heisst das, dass auch die Künstlerin in einer allgemeinverständlichen, metaphernreichen Sprache einen Nachklang, Widerhall im Publikum schafft. Auch Anna Amadio berichtet von ursprünglichen Räumen, von innen und aussen, Städten, Strassen, Häusern oder eben Büros, wie wir sie alle kennen. Nur tut sie es in der bildenden Kunst, nicht in der Literatur.

 

Im Wissen, dass Anna Amadio die Metapher also nicht zu vermeiden versucht, sondern geradezu zu finden hofft, gewinnt „Lips Inc.“ an Komplexität: Das Vakuum darf psychologisch verstanden werden, assoziiert bis hin zur Klaustrophobie im Grossraumbüro. Auch der innere Druck, den die Künstlerin in New York erlebt haben muss (Erwartungs-, Leistungsdruck, die Menschenmassen, die beengten Lebensräume, die Einsamkeit vielleicht), ist als Metapher in Lips Inc. zu erkennen. Die durchs Vakuum entzogene Luft ist philosophisch, metaphysisch, metaphorisch und wo bisher die Farben als Fröhlichkeit gedeutet wurden, tritt endlich auch das Unschöne hervor. “Lips Inc.“ will nicht konservieren, nicht einpacken, nicht irgendwas irgendwohin hinüberretten, vielmehr führt die Künstlerin mit „Lips Inc.“ ihren inneren Zustand und die äusseren Begebenheiten in der Grossstadt zusammen. Die in „Lips Inc.“ angelegten Metaphern veranschaulichen und steigern leichtfüssig die Empfindungsfähigkeit von uns Betrachtenden, wecken in uns Bachelards Widerhall für Räume. Anna Amadio gelingt mit „Lips Inc.“ ein allgemeinverständliches Bild für die menschliche Existenz in einer Grossstadt. Die einzelne Koje kann genauso Büroplatz sein wie auch Häuserblock, die unter der Folie erkennbaren Gegenstände berichten ebenso von unserer Uniformität wie von unserer Individualität.

 

“Lips Inc.“ bietet auf bildnerischer Ebene einfach und intuitiv dechiffrierbare Metaphern, ebenso verhält es sich mit dem Titel, in dem Anna Amadio mit Lips nicht nur Lippen, sondern auch englisch Ränder kombiniert mit incorporated, dem eingetragenen Verein. „Lips Inc.“ ist eine erzählerische Arbeit, die von den Rändern unserer Wahrnehmung berichtet, die Geschichten aus der Grossstadt und unserem Lebensgefühl transponiert. Diese narrative Eigenschaft durchzieht das gesamte Werk Anna Amadios, wird aber oft wenig beachtet. Die Frage, wie etwas gemacht ist (das Vakuum bei den räumlichen Arbeiten, die Linienbündel bei den Zeichnungen), drängt sich vor die inhaltliche, assoziative Lektüre der Werke. Wie ist es gemacht? Abgesehen von den technischen Aspekten (beim Vakuum viele Schläuche und Kabel, bei den Zeichnungen ein Rechen mit mehreren Farbstiften zur parallelen Strichführung) ist für Anna Amadio die Ansammlung bedeutungsvoll. Nicht einzelne Linien ziehen sich übers Blatt, nicht eine einzelne Koje wird unter Folie vakuumiert, sondern erst das Linienbündel der Zeichnungen und die ebenso parallel verlaufenden Folienbahnen über dem Grossraumbüro generieren die von Anna Amadio verlangte Intensität. Diese Analogie zwischen Zeichnungen und „Lips Inc.“ unterstreicht die Künstlerin zusätzlich durch die Präsentation im selben Ausstellungsraum. Die räumlichen Dimensionen der Arbeiten verunmöglichen es, das eine Werk ohne die anderen zu betrachten. Bei der Installation wie bei den Zeichnungen sind dadurch plötzlich dieselben Gesten zu erkennen: Schwung, Druck und Bewegung. Der Zufall beim physischen Vakuum oder bei der expressiven Zeichnung ist von Anna Amadio immer gewollt und macht gemäss ihren Aussagen einen grossen Teil der Arbeiten aus. Die Künstlerin delegiert die Kontrolle der letzten Produktionsschritte zur Installation „Lips Inc.“ an die Technik und ist darüber fast erleichtert.

 

Es der Künstlerin gleichtun und die letzte Kontrolle aufgeben, heisst für die Betrachterin, den Betrachter auch, dem Widerhall Raum geben. Nach Bachelards Theorie der ursprünglichen Einbildungskraft ist „Lips Inc.“ nicht einfach ein Sinnbild New Yorks. In der Installation ist unsere eigene Lebenssituation zu entdecken: der Stress in unserer Arbeitswelt, die Freizeitkultur als versuchter Ausgleich dazu, die soziale Mobilität und ebenso die disziplinierenden Strukturen des Alltags. Wenn die Bürokojen nicht mehr im Masstab 1:1 wahrgenommen werden, widerhallen in den vakuumierten Kuben ganze Städteraster, Häuserblocks und vielleicht gar die Dunstglocke über einer Aggloromation. Gerade wie New York ein Sinnbild für unseren urbanen Alltag ist, nur grösser, hektischer, extremer, so bietet auch „Lips Inc.“ die Metaphern zu unserem zivilisierten Leben. Darin liegt die Anziehung von beiden, von der Stadt und von der Installation – und in uns hallt alles wider.

 

Text Fanni Fetzer

 

Ausstellung "NB" New York-Berlin: Anna Amadio / Vittorio Santoro
Stipendium Bundesamt für Kultur, Schweiz

 

Fotografien u.a. David Aebi

Lips Inc.

Lips Inc. |2006 |PVC Folie, Vakuumtechnik, diverse Materialien |8-teilig, je ca. 130 x 270 x 500 cm [H B T]

Lips Inc.

Lips Inc. |2006 |PVC Folie, Vakuumtechnik, diverse Materialien |8-teilig, je ca. 130 x 270 x 500 cm [H B T]

Lips Inc.

Lips Inc. |2006 |PVC Folie, Vakuumtechnik, diverse Materialien |8-teilig, je ca. 130 x 270 x 500 cm [H B T]

Lips Inc.

Lips Inc. |2006 |PVC Folie, Vakuumtechnik, diverse Materialien |8-teilig, je ca. 130 x 270 x 500 cm [H B T]

Lips Inc.

Lips Inc. |2006 |PVC Folie, Vakuumtechnik, diverse Materialien |8-teilig, je ca. 130 x 270 x 500 cm [H B T]

Lips Inc.

Lips Inc. |2006 |PVC Folie, Vakuumtechnik, diverse Materialien |8-teilig, je ca. 130 x 270 x 500 cm [H B T]

Lips Inc.

Lips Inc. |2006 |PVC Folie, Vakuumtechnik, diverse Materialien |8-teilig, je ca. 130 x 270 x 500 cm [H B T]

Lips Inc.

Lips Inc. |2006 |PVC Folie, Vakuumtechnik, diverse Materialien |8-teilig, je ca. 130 x 270 x 500 cm [H B T]

Lips Inc.

Lips Inc. |2006 |PVC Folie, Vakuumtechnik, diverse Materialien |8-teilig, je ca. 130 x 270 x 500 cm [H B T]

Lips Inc.

Lips Inc. |2006 |PVC Folie, Vakuumtechnik, diverse Materialien |8-teilig, je ca. 130 x 270 x 500 cm [H B T]

Lips Inc.

Lips Inc. |2006 |PVC Folie, Vakuumtechnik, diverse Materialien |8-teilig, je ca. 130 x 270 x 500 cm [H B T]

Lips Inc.

Lips Inc. |2006 |PVC Folie, Vakuumtechnik, diverse Materialien |8-teilig, je ca. 130 x 270 x 500 cm [H B T]

Lips Inc.

Lips Inc. |2006 |PVC Folie, Vakuumtechnik, diverse Materialien |8-teilig, je ca. 130 x 270 x 500 cm [H B T]

Lips Inc.

Lips Inc. |2006 |PVC Folie, Vakuumtechnik, diverse Materialien |8-teilig, je ca. 130 x 270 x 500 cm [H B T]

Lips Inc.

Lips Inc. |2006 |PVC Folie, Vakuumtechnik, diverse Materialien |8-teilig, je ca. 130 x 270 x 500 cm [H B T]

Lips Inc.

Lips Inc. |2006 |PVC Folie, Vakuumtechnik, diverse Materialien |8-teilig, je ca. 130 x 270 x 500 cm [H B T]

Lips Inc.

Lips Inc. |2006 |PVC Folie, Vakuumtechnik, diverse Materialien |8-teilig, je ca. 130 x 270 x 500 cm [H B T]

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Lips Inc. |2006 |PVC Folie, Vakuumtechnik, diverse Materialien |8-teilig, je ca. 130 x 270 x 500 cm [H B T]

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