On the Two Corners2005
Frehrking Wiesehöfer, Köln
29. Oktober bis 22. Dezember 2005
Somewhere in Between Somewhere in between
The waxing and the waning wave
Somewhere in between
What the song and silence say
Somewhere in between
The ticking and the tocking clock
Somewhere in a dream between
Sleep and waking up
Somewhere ... mehr
On the Two Corners2005
Frehrking Wiesehöfer, Köln
29. Oktober bis 22. Dezember 2005
Somewhere in Between
Somewhere in between
The waxing and the waning wave
Somewhere in between
What the song and silence say
Somewhere in between
The ticking and the tocking clock
Somewhere in a dream between
Sleep and waking up
Somewhere in between
Breathing out and breathing in
Like twilight is neither night nor morning
Kate Bush
Die Welt als Matrize. Man sieht sie kaum, erkennt sie nur partikulär. Sie will durchscheinen, tritt stellenweise hervor, und wird doch überwuchert von Farben und deren Strukturen. Der aristotelische Horror vacui nimmt seinen Lauf, von Bild zu Bild wird er bedrohlicher. Er droht den leeren Raum zu schlucken, mehr noch die Welt, die darunter versinkt. Bis wir nicht mehr wissen, was zuerst da war: Waren es nicht dieselben Strukturen und Texturen, die diese Welt als Matrize erst hervortreten liessen, um sie dann im selben Atemzug wieder zu vernichten? Was sehen und erkennen wir dann noch? Was? Ein Bild, das dieser Matrize zugrunde gelegen haben mag? Eine Hohlform zwischen überhöhten Konturen? Herausgeschält und dann bis zur Unkenntlichkeit vernarbt? Mag schon sein – aber das wäre zu grobschlächtig, zu gewalttätig, würde zu wenig der eigentlichen Gesinnung dieser Frottagen entsprechen. Denn tatsächlich sind diese Bilder poetisch, bilderreich, ausdrucksvoll, stimmungsreich. Was also?
Es sind solche teils rationalen teils gefühlsmässigen Wirrungen, die man angesichts der jüngsten Werkgruppe von Anna Amadio durchläuft und durchlebt. Während das Denken dieser üppigen Bildwelt über die Sprache Herr zu werden versucht, scheint ein vages Gefühl immer dann ans Tageslicht zu treten, wenn die Sprache versagt. Das Identifizieren und Dechiffrieren scheinbar bekannter Motive wird unterlaufen von mächtigen Texturen, die man nur sieht, ohne sie ikonisch oder begrifflich zu begreifen. Dabei gibt es insgeheim zwei Wege, diesen Zeichnungen Anna Amadios zu begegnen. Man kann entweder versuchen, den Arbeitsprozess der Künstlerin verfahrenstechnisch und gewissermassen genotypisch nachzuvollziehen – dann wird man bei einer Fotografie beginnen, die das Vorbild für jene Frottagen bildet, die nach und nach unter einer gestischen Zeichnung herausgearbeitet und wieder verschüttet werden. Der zweite Weg führt über die unmittelbare Begegnung mit diesen Zeichnungen, also über das Sehen, das sich – diesmal phänotypisch – Schicht für Schicht durch die farbigen Schollen, Krater und Schründe durcharbeitet, um hie und da zu den Anfängen der Werkgenese vorzudringen. Während so der eine Weg eher eine Art logischen (also auch: sprachlichen) Nachvollzug gestattet, der doch nicht alles erklären kann, führt der andere Weg in jene Gefilde im Werk Anna Amadios, die sich der Sprache gerade entziehen. Oder, wie es Claudio Moser in einem Brief an Anna beschreibt: dorthin, wo “das Auge mäandert“ und das Vokabular nur “stotternd eigene Geschichten entstehen“ lässt.
Wenn man sich also zunächst darauf besinnt zu fragen, wie das, was man sieht, zustande gekommen ist, dann gibt der Titel dieser sechsteiligen Werkgruppe zumindest einen Anhaltspunkt: “On the Two Corners“ heissen diese grossformatigen Papierarbeiten von Anna Amadio, die 2005 entstanden sind. Sie basieren auf fotografischen Aufnahmen zweier Häuserblocks in New York, die gewissermassen die motivische Grundstruktur aller Arbeiten dieser Gruppe bilden. Wie in einer extremen Weitwinkelperspektive driften die beiden mehrstöckigen Eckhäuser in den Hintergrund, dazwischen ein Strassenzug, der sich zum Bildmittelgrund verjüngt. Dazwischen taucht wechselndes Personal auf: hier das Profil eines Mannes, dort die Schimäre eines Passanten, von dem nur noch die Schuhsohle wirklich erkennbar ist. Die Fassadenstruktur spiegelt sich auf dem Boden wider. Ein Bild weiter wirkt dieser Boden wie grober Asphalt. Anna Amadio komponiert so aus Versatzstücken des “realen“ Lebens ein motivisches Schema, das sie innerhalb der Werkgruppe wiederholt, aber auch ebenso gezielt modifiziert.
Entscheidend ist dabei, wie diese “Realität“ in die Zeichnungen Eingang findet: Zuerst hinterlässt diese Realität eine physische Spur auf einer Fotografie – das Licht schreibt sich in das lichtempfindliche Fotomaterial ein. Die daraus entstandenen Fotos werden dann zur Vorlage für jene Leimzeichnung, auf der die Frottage entsteht. Das Motiv der Zeichnung basiert also im Grund genommen auf einer zweifachen indexikalischen Zeichenrelation, das in beiden Fällen ein physisches Abbild zum Ergebnis hat. Und doch könnte der Grad der Ver- und Entfremdung, den das Motiv während dieses Prozesses erfährt, nicht grösser, nicht gewaltiger sein. Denn wo die Übertragung der “Realität“ von der Fotografie auf die Leimzeichnung noch wirkliche Züge trägt, avanciert das physische Abbild der Frottage mehr und mehr zur Phantasmagorie. Diese besondere Qualität hatte Max Ernst – gewissermassen der Urahn der modernen Frottage – bereits in den 1920er Jahren erkannt und für seine Kunst des “donner à voir“ (Paul Eluard über Max Ernst) zu nutzen gewusst. Während aber Ernst aus den vorgefundenen Texturen Motive gezielt herausarbeitete, verfährt Anna Amadio in entgegengesetzter Richtung: Bei ihr wird das unterlegte Motiv so lange abgerieben, bis es nahtlos und gleichwertig in der Struktur der Zeichnung aufgeht.
Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn man den zweiten der beiden beschriebenen Wege geht und sich Anna Amadios Zeichnungen phänotypisch, also unmittelbar über das Sehen, nähert. “On the Two Corners #1“ ist eingefasst von der Bildfläche des weissen Papiers, auf dem sich die Lineatur der Häuserfassaden deutlich abzeichnet. Der Strassenzug, der dazwischen verläuft, wird indes von unwirklichen Szenen in Besitz genommen. Stehende Personen und Passanten werden dort von Netzen und Fontänen eingesponnen, ein Wellenornament in der linken Bildhälfte lässt kaum noch erkennen, ob es sich der Leimvorlage verdankt oder der Zeichnung selbst. In Bild “#2“ scheint sich das Geschehen für einen Moment gelichtet zu haben, wie Insektenschwärme hüllen zwei wolkige Gebilde die Personen und Passanten auf der Strasse ein. In Bild “#3“ wird der rechts liegende Häuserblock mit seinem Mauerwerk, den Trägern, Stützen, Ballustraden und einem Rolltor en detail sichtbar, wohingegen die räumliche Verbindung zur gegenüberliegenden Strassenecke fast völlig gekappt ist. Überzogen von grünen Narben bleiben hier nur vage Schimären erkennbar, deren Gestalt und Grössenverhältnis sich nicht mehr eindeutig identifizieren lassen.
Von hier aus nimmt der eingangs beschriebene Horror vacui unaufhaltsam seinen Lauf – aber er ist weder Selbstzweck, noch verdankt er sich der damit verbundenen Angst vor der Leere. Statt dessen hat Anna Amadios bildfüllende Energie einen ganz anderen Beweggrund: Wie von selbst scheint sie sich gegen die Restriktionen des Abbilds und für die Freiheit der phantasmagorischen Zeichnung entschieden zu haben. Unter dichten Farbbündeln und grossflächigen Schraffuren gehen in Bild “#4“die Häuserfassaden in einem rot glühenden Horizont auf, gebündelte Lichtstrahlen kreuzen ihre Bahn, kleine Farbexplosionen beleben den gestirnten Himmel zusätzlich. In Bild “#5“ wiederum bevölkern biomorphe und florale Zeichen den Bildraum, sie werden in ihrer Dichte und Fülle noch einmal übertroffen in Bild “#6“: Das Motiv ist hier fast vollständig, aber es changiert einmal mehr zwischen den wiedererkennbaren “Two Corners“ und jener bildfüllenden Textur, die man nach wie vor nur als Zeichen lesen möchte. Erst im abschließenden Bild der Werkgruppe wird diese flirrende Fata Morgana wieder zur Wolke – bevor sie schließlich verpufft und sich langsam aus dem Bildraum verflüchtigt.
Ganz gleich, welchen der beiden beschriebenen Zugänge zu den Arbeiten von Anna Amadio man sucht – die inneren Grenzen, die die Künstlerin in ihren Blättern auslotet, lassen am Ende kaum eine Synthese der antagonistischen Kräfte zu: Der positivistische Versuch einer doppelt indexikalischen Bildfindung verselbständigt sich in einer Spielart der Zeichnung, die einfach nur noch sie selbst ist – oder pure Phantasmagorie. Die vorder- oder besser: untergründige “Realität“, die Amadio ins Bild überträgt, wird durch die Frottage erst sichtbar, um dann sukzessive mit ausladenden Gesten wieder vernichtet zu werden. Das ikonische Zeichen, das noch einen Rest dieser “Realität“ ins Bild rettet, wird von Chiffren und Texturen so lange getränkt, bis deren eigene irreale Realität die gesamte Bildsprache dominiert.
Wo genau diese Grenzen in den Arbeiten von Anna Amadio verlaufen, lässt sich nicht mehr bestimmen – ob man nun vom Anfang dieser Bilder oder von deren Ende ausgeht. In jedem Fall aber markieren sie einen Zustand des “Somewhere in between“, von dem aus die Künstlerin das disjunktive Neben- und Nacheinander ihrer Bilder nicht zu einem blossen Kompromiss zwingt, sondern zu grossartiger Spannung treibt: zwischen der ansteigenden und der abfallenden Welle, zwischen dem Tick und dem Tack der Uhr, zwischen Schlaf und Aufwachen, zwischen dem Ein- und Ausatmen. Diesen Momenten der Spannung eine dauerhafte, ausdrucksvolle und stimmungsreiche Poesie zu verleihen, gehört zu den wunderbarsten Qualitäten der Arbeit von Anna Amadio.
Text Ralf Christofori
Fotografien Galerie Frehrking Wiesehöfer, Köln / Jürgen Schmidt
On the Two Corners |2005 |Frottage, Farbstift auf Papier
On the Two Corners |2005 |Frottage, Farbstift auf Papier
On the Two Corners, Nummer 2 |2005 |Frottage, Farbstift auf Papier |152 x 298 cm [H B T]
On the Two Corners |2005 |Frottage, Farbstift auf Papier
On the Two Corners, Nummer 4 |2005 |Frottage, Farbstift auf Papier |152 x 298 cm [H B T]
On the Two Corners, Detail, Nummer 1 |2005 |Frottage, Farbstift auf Papier |152 x 298 cm [H B T]
On the Two Corners |2005 |Frottage, Farbstift auf Papier
On the Two Corners |2005 |Frottage, Farbstift auf Papier
On the Two Corners, Nummer 5 |2005 |Frottage, Farbstift auf Papier |152 x 298 cm [H B T]