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Stagediving1997

An einem Abend steige ich auf metallenen Rasterstufen eine Treppe hoch. Als Fluchtweg bewegt sie sich vom Gebäude fort ins Freie, kommt mir entgegen. Leichter und immaterieller könnte eine Treppe kaum sein, denke ich, und doch ist ein gewisser Widerstand, die entgegengesetzte Bewegung dies ... mehr

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Stagediving1997

An einem Abend steige ich auf metallenen Rasterstufen eine Treppe hoch. Als Fluchtweg bewegt sie sich vom Gebäude fort ins Freie, kommt mir entgegen. Leichter und immaterieller könnte eine Treppe kaum sein, denke ich, und doch ist ein gewisser Widerstand, die entgegengesetzte Bewegung dieses architektonischen Elements zu überwinden.

 

In unbestimmter Gebäudehöhe finde ich ein paar dichtgedrängte Fenster. Ein wenig farbiges Licht werfen sie nach aussen, während der Innenraum verborgen schimmert. Farbige Matten hängen wie selbstverständliche Vorhänge.

 

Ein Fenster ist geöffnet, gibt Einblick in einen ausgedehnten Raum, beleuchtet von Lampen, Scheinwerfern, beschienen, bestrahlt in verschiedene Richtung von hellweissen, kühlen Lichtern, sich kreuzenden Strahlen, die vom Boden aufsteigen und von oben niedergehen. Dazwischen wirft ein Schreibtischlicht warmes, gelbliches Licht vor sich hin. In das Geflecht aus Scheinwerferlichtern eingewoben sind blitzende Plastikbahnen, dünne, transparente Folien, die sich - so scheint es - in roher Unordnung, in Verdichtungen, seltsamen Häufungen, Ballungen in diesem Raum aufhalten. Folienvorhänge, zu riesigen, pilzhaften Lamellenschichtungen gewachsen.

 

Dies sind vorrübergehende Formierungen, experimentelle Stadien, auch später wohl eher flüchtige Sätze in einen flirrenden Lufthauch geflüstert, in einen leisen Wind hinein. Eine vibrierende Baustelle vielleicht, Baustellenkeime, die eines Tages - an anderen Orten ausgebracht - beginnen könnten, Unruhe zu stiften.

 

Eine Unruhe beispielsweise, wie sie Zander in Laubenschwärme bringen. Lauben raubend, sorgen sie für veränderte Verhaltensweisen der Kleinfische. Bereits auf kleinste Zanderandeutungen reagieren die Lauben äusserst empfindsam.

 

Ähnliches zu Lande: Jedes Schaf, das wir auf die Weide lassen, wird für die Grashalme zum unkalkulierbaren Risiko. Erst recht wenn es ein ausgehungertes Schaf, ein gefrässiges Grossschaf ist, das die Wiese mäht, ganz zu schweigen vom geklonten Dolly, das uns eines Fernsehabends frisch frisiert zutiefst erschreckte.

 

Was Anna Amadio in diesem Raum, der ihr Atelier ist, lebensfähig macht, weckt meine Neugier auf das, was zu einem späteren Zeitpunkt unter realen Bedingungen, ohne die schützende Hülle dieses Raumes, der sich wie ein Brutkasten wärmend über neugeborene Ideen beugt, entstehen wird. Im Atelier ist Material in der Erprobungsphase zu sehen, dünne, leichte Plastikfolien, glänzend in gleissenden Scheinwerfern, deren starkes Licht sie wie kleine Blitze zurückschiessen. Die transparenten Plastikmatten lösen den Raum im Hintergrund, die hinten liegenden Teile der Architektur auf, lassen sie unscharf werden. Je dichter die Bündelung der Folien, desto stärker bringen sie die Klarheit des Raumes hinter sich zum Verschwinden. Nach vorne jedoch, auf den Betrachter zu, werfen sie mit Licht. Fliessende Buchstaben, kaum als solche zu erkennen, deutlicher in Zeichnungen überall an den Wänden, sind in die Folien eingewoben. Buchstabenandeutungen aus transparentem Plastik, Körper aus fast Nichts könnten sich später zu wellenartigen, rhythmischen Buchstabenfolgen verdichten. Weniger ein rationales Wortgebilde auskristallisierend, das auf Bedeutung zielte, als vielmehr eine Folge von Lauten, eine Sequenz von Tönen lautmalerisch, tänzerisch sich bewegend. Elemente von Klängen, Tanz und Musik scheinen sich vorzubereiten. Das dünne, leicht zerstörbare Plastikmaterial erhielte eine akustische Dimension. Ihren grazilen transparenten Findungen würde Anna Amadio Sprache, vielleicht auch so etwas wie Gesang einhauchen. Wir, die Betrachtenden, wären aufgefordert, nicht allein zu sehen, uns nicht nur durch die zarten Gebilde hindurchzubewegen wie durch das seltsame Paradox einer weichen Kristallarchitektur, nein, wir würden unseren Hörsinn gebrauchen lernen und das, obwohl ganz offensichtlich keine reale Musik hörbar wäre. Das Hören würde sich auf Unhörbares konzentrieren. Klänge könnten hörbar sein ohne Schwingungen der Luft, ohne Trommelfelle. Ist es schliesslich Musik nach den vielen geschweissten Bahnen, Transparenzen, Diskussionen, nächtlichen Lampen? Entsteht am Ende eine weiche, gläserne Architektur aus Gesang und Musik, ein Luftschloss, kristallisieren sich unwirkliche, papierdünne Tonlagen aus?

 

Es wird keine Musik mit Pauken und Posaunen sein, vielmehr ein leichter Luftzug, etwas flüchtig Musikhaftes, recht entfernt, das anfliegen könnte, vorbeistreifen. Rieselgeräusche vielleicht einer sonnenerwärmten Kiesgrube, rauher Sand und Steinchen, loses Material, das trocken abrutscht, ans Ohr gerät, eher zufällig, fast schon vorbeigeradelt.

 

1993 entstehen Zeichnungen: Hotelkomplexe, schwarz/weiss gezeichnete, Touristengegenden mittelmeerische, mit Strandleben davor. Diese architektonischen Dinosaurier, Trampeltiere, diese zweiwöchigen, goldkettigen Lustkisten sind immateriell, wie durchscheinend skizziert, Studienobjekte um die Frage, wie ein massiver Brocken durchsehbar gemacht werden kann. Die Konzentration auf die Konturlinie, die formale Nähe zur Sprache von Comics führt uns schnell wieder zurück in die Realität architektonischer Umweltverschmutzung zwischen Jähzorn und Vollrausch.

 

Den Zeichnungen folgen 1994 die ersten Luftobjekte in der Dimension von Möbeln. Aus dünner Plastikhaut, transparent und verletzlich, gehalten, getragen von Luft, von Luftvolumen, besitzen sie klar konturierte Formen, eine Regelmässigkeit, die bisweilen die Nähe zu geometrischer Klarheit aufsucht. Aus psychologischem Blickwinkel sind diese Arbeiten leichter handhabbar, besser zu kontrollieren und rein optisch einfacher zu erfassen, zu überblicken als die wenig später entstandenen Luftobjekte, deren Masse und räumliche Komplexität sich enorm potenziert haben, wie etwa die raumfüllende und gleichzeitig grazile Installation in der Kunsthalle Palazzo (Liestal 1996). Luft aus Aquarienpumpen strömt permanent durch dünne Schläuche in das Innere der aufblasbaren Hüllen, dieser gewaltigen Lungenflügelgedanken, die die Luft langsam, unsichtbar und ungewollt wieder austreten lassen. Der ausbalancierte Luftdruck im Inneren, nicht sehr hoch, gerade so, dass sich die Form halten kann, ist das unsichtbare Herz dieser Lebewesen, dieser riesigen Amöben und Pantoffeltierchen. Sie suchen ein sensibles Gleichgewicht zwischen Zusammensacken und Überdehnung. Sie besetzen Innenräume und füllen sie mit ihrem eigenen Volumen. Proportion und Prägnanz der architektonischen Struktur geraten ins Taumeln, schleudern leicht und fliegen aus der Bahn.

 

Das Material ist hier und in anderen grossen Arbeiten eine durchlässige Haut, eine weiche, veränderliche Membran, die mit ihren Falten feine Lichtreflexe aufblitzen lässt. Wir finden eine dynamische, kraftvoll emotionale, dann wieder verschlossene, wie abwesende Auseinandersetzung mit dem Licht, mit künstlichem oder natürlichem Licht, das ja gar nicht anders kann, als auf die dünne, milchig-durchsichtige Haut zu treffen. Einiges Licht prallt, fokussiert von konvexen Falten, wieder zurück, dem Betrachter entgegen. Anderes Licht sinkt nach innen in die Körper ein, noch weiter schliesslich, in die Hohlräume, die im Inneren wie Organe schlafen. An jeder dieser vielen Häute, dieser durchlässigen Grenzen bleibt ein wenig Licht zurück. Nach innen zu wirken die Oberflächen immer milchiger und matter, immer verwaschener wird der Eindruck des Materials. Auch die von den Luftobjekten teilweise verdeckten Segmente der Architektur neigen dazu, fliessend ungreifbar zu verschwimmen, manchmal wie in Nacht und Nebel sich davonzustehlen. Sie finden offenbar Gefallen, ihre Konturen zu verschleiern, von ihrer notorischen Klarheit und banalen materiellen Präsenz abzuweichen, sich zu verflüssigen, sich stellenweise wie in Dunst aufzulösen. Der Raum, der Raum in seinen Teilen, verwackelt wie unter starker Hitze, ein Flimmern fast, ein Schlingern ist zu beobachten, das unsere empirische Ansicht von Architektur zum Schmelzen bringt.

 

Text Markus Stegmann

 

Stagediving

Stagediving |1997 |Polyäthylen |550 x 600 x 1100 cm [H B T]

Stagediving

Stagediving |1997 |Polyäthylen |550 x 600 x 1100 cm [H B T]

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Stagediving |1997 |Polyäthylen |550 x 600 x 1100 cm [H B T]

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