DeutschEnglisch

Stagediving1997

Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen
27. April bis 8. Juni

"Lichtfoliengewächs, sonderbar im dunklen Raum licht schwebendes"

Leicht ist das Lichtgewächs, dunkel der Raum, und ein zartes, suchendes Licht tastet sich an die durchsichtige Substanz, sinkt ein, immer tiefer in die Transparenz der Folien. Nebelkühl kalt, blei ... mehr

Bildergalerie +

Stagediving1997

Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen
27. April bis 8. Juni

"Lichtfoliengewächs, sonderbar im dunklen Raum licht schwebendes"

Leicht ist das Lichtgewächs, dunkel der Raum, und ein zartes, suchendes Licht tastet sich an die durchsichtige Substanz, sinkt ein, immer tiefer in die Transparenz der Folien. Nebelkühl kalt, bleigrau, bläulich, beginnt die Substanz sich partiell zu verflüchtigen, löst sich diffus und ortlos auf, so als würde von irgendwo Nebel aufsteigen. Das Auge taucht im Material-Licht-Gemisch ab, versinkt schwer wie Stein in einem grenzenlosen Meer. Dasselbe Licht, eben noch kalt, von beinahe eisiger Temperatur, erweckt die meisten anderen Partien der Folien zu warmen Farbtönen, entzündet sie zu einem magischen Glühen, das den grössten Teil der Installation und besonders den Freiraum unter ihr und damit die Betrachtenden in ein mildes, unwirkliches Licht hüllt. Gelbtöne sind im Spiel, die bis in orangerote Valeurs hineinspielen und das saugende, suggestive, den Blick fesselnde schwere Orange eines Sonnenuntergangs anklingen lassen. Tatsächlich: Je mehr Folien sich vor die Lichtquelle schieben, desto wärmer, rötlicher wird das Licht gleich der Sonne, die während ihres Untergangs immer mehr Schwebeteilchen zu durchleuchten hat. So gross, so hoch der nun wie dämmernd, schlafend wirkende Ausstellungsraum auch ist, die Arbeit fügt sich spielerisch leicht, mit schlafwandlerischer Sicherheit in die vorgegebenen Proportionen ein. Sie lastet nicht auf dem Boden, sondern hängt beinahe unsichtbar von der Decke. Doch optisch ist es kein wirkliches Hängen, keine lastende Schwerkraft, nein, ungleich leichter, von den erdanziehenden Kräften entbunden, wie selbstverständlich davon befreit, schwebt die Arbeit im Raum. Ein Dialog zwischen dem verletzlichen Material und dem Licht hat sich zu einer geheimnisvoll glimmenden Atmosphäre verdichtet, beinahe frei von materieller Substanz und Erdanziehung.

 

Im wesentlichen besteht „Stagediving“ - 1997 eigens für den Wechselsaal des Museums zu Allerheiligen Schaffhausen entstanden - aus zwei dicht aneinandergeschobenen Raumkompartimenten, die sich ihrerseits aus zahlreichen vertikalen Segmenten zusammensetzen. In Längsrichtung verlaufen auf einer Breite von 6 Metern lamellenförmige Schichtungen, die in einer Höhe von rund 2,7 Metern enden. Quer dazu hängen kulissenhafte Formen, gestaffelt bis auf den Boden. Darin sind symmetrische, geometrische und freie Linienverläufe eingewoben. Licht prallt von der hintenliegenden Wand ab und hinterleuchtet indirekt diese Zeichnungen, die erst durch das Licht sichtbar werden und als kleine, dreidimensionale Körper hervortreten. Das Licht bewirkt die räumliche Vernetzung der geometrischen und lautmalerischen Linienfindungen, deren präziser Ort hinter den Folien trotzdem nicht genau zu bestimmen ist. Schreitet man die Linien ab, verschieben sich die Schichtungen in Längsrichtung, verzahnen sich die Linienbewegungen. Zeichnungshaftes springt vom Zwei- ins Dreidimensionale und wieder zurück, ein fluktuierendes Spiel von Fläche und Räumlichkeit. Der Titel „Stagediving“ spielt im übrigen auf Bühnenereignisse an, auf den Sprung von der Bühne ins Publikum. Die Installation kann als (umgedrehte) Bühne gedacht werden, dennoch ist diese Vorstellung keineswegs zwingend, ebenso sind andere inhaltliche Überlegungen zu entwickeln.

 

Grosszügigkeit, fliegend leicht, kristallklar, frei von Kraftanstrengung, ist ein wesentliches Kennzeichen dieser Lichtfolienerscheinung und das, ohne die Betrachtenden zu überwältigen, sie aggressiv zu überrumpeln oder sie in einem Rausch gefährlicher Monumentalität fortzureissen. Trotz der raumfüllenden Dimensionen einer Gesamtlänge von 11 Metern ist nicht Monumentalität ihr Merkmal, sondern das subtile Verschmelzen von Licht und Material. Ihr weicher, auratischer Lichtschein, ihre selbstverständliche Befindlichkeit hellen Schwebens entfalten eine Suggestionskraft, der man sich kaum entziehen kann. Dieses Lichtfoliengewächs fesselt und schlägt mit geheimnisvollem Zauber die Betrachtenden in seinen Bann. In der Summe der Beobachtungen, im Gesamtbild der Erfahrungen, die im Einzelnen eine präzise, eingehende Wahrnehmung erfordern, entstehen innere Bilder, zu welchen auch persönliche Erinnerungen hinzutreten. Ich denke an eine Passage aus Raoul Schrotts „Finis Terrae“, ein atmosphärisches, unwirkliches Bild, das ich neben das Bild der Installation in Schaffhausen stelle. Künstlerin und Schriftsteller, derselben Generation angehörend, vermitteln Bilder, deren Intensität sich tief in unser ästhetisches Empfinden eingräbt:

 

„88. Tag - Wie weit wir wieder nach Süden gelangt waren, liess die Nacht kaum bestimmen, da die Ruder nicht zu gebrauchen waren und wir uns mit der Strömung treiben lassen mussten, wobei die Besatzungen grosse Angst hatten, von ihr mitgerissen zu werden. Gegen Sonnenaufgang aber leuchtete das Meer wieder, woran ich ersah, dass wir wieder an das Gestade des Okeanos gekommen waren. Am Morgen sichteten wir eine grosse Säule im Meer, die nicht weit weg schien, und doch brauchte es den ganzen Tag, bis wir sie erreichten. Sie hatte vier Seiten, und die Breite jeder dieser Seiten war zwei Ruderschläge des Schiffes. Um sie herum war keine Erde, sondern nur das unermessliche Meer; und man konnte auch nicht sehen, wo sie ihren Grund fand, noch wie sie an der Spitze aussah, weil sie bis zum Himmel ragte. Wir trieben mit ihr in der Strömung; an den Kanten war sie fast durchsichtig. Von ihrem Gipfel herab fiel ein weitmaschiges Netz, dessen Öffnungen so gross waren, dass das Schiff hindurch kam. Aber wir wussten nicht, woraus dieses Netz geknüpft war. Seine Farbe war silbern, doch erschien es härter als Marmor. Die Säule selbst aber war aus reinem Kristall, und eine grosse Kälte ging von ihr aus.“

 

Umhergehend, versunken in die Wahrnehmung der Installation, kann man plötzlich bemerken - vornehmlich aus einiger Entfernung -, wie das Hören aktiviert ist. Als gäbe es akustische Signale von der stillen Skulptur, lauschen wir wie in einen Zauberwald hinein. Zunächst mögen äussere Motive für diese erstaunliche Wirkung auslösend sein: die teilweise lautmalerisch erscheinenden Linien, diffus in der Querwand eingelassen, vielleicht auch eine durch die Präsenz der Arbeit tatsächlich veränderte Akustik des Raumes. Als entscheidende Ursache kristallisiert sich nach und nach die auratische Atmosphäre der Installation heraus. Und so hören wir, obwohl faktisch gar nichts gehört werden kann.

 

Anna Amadios „Stagediving“ besitzt keine Botschaft im Sinne einer konkreten inhaltlichen „Message“. Für die Künstlerin liegt die inhaltliche Substanz in der Eigendynamik des Materials, die sich während des Prozesses der Werkentstehung entwickelt. Die Autonomie des Materials, seine im voraus nie vollständig planbare physische wie psychische Präsenz wirken konstruktiv als Herausforderung. Für uns Betrachtende hat sich der Ausstellungsraum in einen Ort gewandelt, der Möglichkeiten sinnlicher Erfahrungen besitzt, die sonst nirgendwo zu gewinnen wären. Die sensiblen Kontakte zwischen Material, Licht und Architektur, das Beziehungsgeflecht, das sich aus deren wechselseitigen Berührungen entwickelt, stellt sich als eigentlicher Kern der Arbeit heraus. Das Licht färbt das Material, lässt dessen Stofflichkeit wie Insekten im Himmel verfliegen. Das Material seinerseits zerfasert und verfranst das Licht, wirkt wie Nebel auflösend, wodurch wiederum die nächste Umgebung der Arbeit in einen transzendenten Lichtschein getaucht wird, was für den Raum ein stilles Schlafen bedeutet, ihn in einen gewissermassen klösterlichen Raum der Versenkung und Kontemplation verwandelt. Die Vernetzungen geschehen wechselseitig, sind so sensibel aufeinander abgestimmt, dass schliesslich jedes der konstituierenden Elemente - Material, Licht, Architektur - verzaubert hervortritt. Es ist mehr als nur ein Dialog, der hier geführt wird. Es vollzieht sich eine gegenseitige Vertiefung der Dinge hinsichtlich ihrer ideellen Substanz. Der Entschluss der Dinge, ihre materiellen Bindungen zu verlassen, führt zu einer Verdichtung geistiger Präsenz, die in der verzauberten Atmosphäre des Raumes, im warmen Lichtschein der Installation sinnlich fassbar aufscheint.

 

Text Markus Stegmann

 

Fotografien Hansjörg Walter

 

Stagediving

Stagediving |1997 |Polyäthylen, diverse Materialien |550 x 600 x 1100 cm [H B T]

Stagediving

Stagediving |1997 |Polyäthylen, diverse Materialien |550 x 600 x 1100 cm [H B T]

Stagediving

Stagediving |1997 |Polyäthylen, diverse Materialien |550 x 600 x 1100 cm [H B T]

Stagediving

Stagediving |1997 |Polyäthylen, diverse Materialien |550 x 600 x 1100 cm [H B T]

Stagediving

Stagediving |1997 |Polyäthylen, diverse Materialien |550 x 600 x 1100 cm [H B T]

Stagediving
Gute Webseiten.esensé